19.01.2021

Bettelnarr

Rottweil während der 1970er Jahre. Die Ausschussmitglieder der Narrenzunft sind in Sorge um das Erscheinungsbild der weltberühmten Fasnet. Ein erster großer Boom lässt nicht nur die Zahl an Narrenkleidern explodieren, viele entsprechen nicht mehr den Vorbildern aus der Reichsstadt- Zeit. Larven werden wie am Fließband produziert. Nicht selten erinnern ihre Oberflächen an Auto-Lacke. Der verstorbene Karl Lambrecht, damals Zunftschreiber der Narrenzunft, verfasst eine „Narrenfibel“, in der zu lesen ist, welche Standards ein Rottweiler Narrenkleid zu erfüllen hat. Die Zunft erfasst alle Kleidle und vergibt Plaketten an jene, welche dem Prädikat „Original“ entsprechen. Für viele Bürgerinnen und Bürger mutiert daraufhin das Narrenkleid zum Prestige-Objekt. Kunstmaler werden für stolze Summen verpflichtet, um das Gewand optisch zu veredeln.

Eine Gruppe junger Rottweiler ist mit dieser Entwicklung gar nicht einverstanden. Als die kritischen Jung-Bürger in einem Abbruchhaus auf ein altes undverschlissenes Narrenkleid stoßen, entsteht die Idee, jene in der älteren Rottweiler Fastnachtsliteratur beschriebene Figur des Bettelnarren aufleben zu lassen. Die jungen Leute besorgen nach und nach die überlieferten Utensilien wie einen alten Samensack, einen Glockenriemen mit nur einer Glocke sowie einen Katzenschwanz für die Kopfhaube. Der Larvenschnitzer Robert Haunstetter fertigt eine mit starken Abnutzungsspuren und einem Riss versehene Glattlarve. Zu Beginn der 1980er Jahre zieht dann der Bettelnarr erstmals nach den Narrensprüngen durch die Stadt, sammelt in den Cafés, Gaststätten sowie bei Bäckern und Metzgern Almosen und verteilt diese in Seniorenheimen und an andere Menschen, die nicht an der Fasnet teilnehmen können.

Seine Existenz polarisiert. Einzelne Mitglieder der Narrenzunft beschimpfen den Bettelnarren in einer Gaststätte. So mancher Rottweiler auf der Straße zeigt sich erschrocken über Larve und Kleid. „Schäm Dich!“ wird gerufen oder „So geht doch kein Narr auf die Straße!“ Die Initiatoren jedoch halten an der Figur fest. Sie sind fasziniert von deren sozialer und vermittelnder Rolle. Zwar vergisst es auch die Narrenzunft bis heute nicht, Wein und andere Gaben während der Fasnet an die Seniorenheime zu spenden, der Bettelnarr aber sammelt in seiner dargestellten Schäbigkeit öffentlich und besucht die Empfänger seiner Gaben höchstpersönlich.

Dabei entsteht ein Stück Fasnet jenseits aller bekannten Drehbücher. Berührende Gespräche mit von schwerer Krankheit gezeichneten Menschen oder ein feuchtfröhlich verlaufener Kulturaustausch im Asylantenheim sind Beispiele aus der Fasnet des Bettelnarren. Viele Menschen sind dankbar, dass sich im wilden Strudel der tollen Tage jemand für sie Zeit nimmt, sie nicht vergessen werden. Auch in der Oberen Hauptstraße am Montagnachmittag lässt sich die Einzel-Figur normalerweise blicken und erlebt selbst dort ganz andere Seiten der Rottweiler Fasnet. Kinder überlassen dem armen Gesellen unaufgefordert einen Teil ihrer gesammelten Süßigkeiten für seinen Sack.

Längst ist bereits die zweite Generation am Start, wenn es darum geht, den Bettelnarren mit Leben zu füllen. Die Organisation verläuft äußerst unkompliziert: „Vor der Fasnet wird in der Gruppe kurz besprochen, wer wann geht, das war es schon“, berichtet ein Insider. Der Bettelnarr ist keine maskuline Figur: „Es steckte auch schon einmal eine Frau im Kleidle.“ Letztmals in die Schlagzeilen gerät er vor wenigen Jahren. Jemand klaut die Larve, wenig später werden über bestimmte Kanäle Kopien angeboten – ein Fall für die Polizei. Mit neuer Larve wird die Geschichte des Bettelnarren fortgeschrieben. Ob und wie er seine Rolle während Corona ausfüllen kann, bleibt abzuwarten.

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