08.07.2020

Verausgabend

Kann es sein, dass in Flözlingen die stärksten Leute der gesamten HIERBLEIBER-Region leben? Man könnte es meinen, wird doch in dem Ortsteil von Zimmern seit 1920 ein kraftraubender Sport betrieben: Gewichtheben. Wäre nicht Corona dazwischen gekommen, hätte der SV Flözlingen in diesen Tagen seinen 100. Geburtstag zünftig gefeiert. Natürlich mit einer Meisterschaft im Festzelt, bei der Gewichtheber aus ganz Baden-Württemberg in ihrer jeweiligen Gewichtsklasse gegeneinander angetreten wären. Im Gegensatz zum Mannschaftswettkampf, der sonst immer in der Halle stattfindet.

Sechs gegen sechs. Erst Reißen, dann Stoßen. Jeder einzeln. Jeweils mit drei Versuchen, von denen immer der beste zählt und Punkte bringt. Während beim Stoßen die Langhantel mit den Gewichten zunächst auf der Brust landet und dann über den Kopf gestemmt wird, geht es beim Reißen darum, die Langhantel vom Boden aus direkt über den Kopf zu stemmen. Das Gewicht bestimmt jeder Sportler selbst. Im Sinne eines fairen Wettkampfs wird in der Wertung das Körpergewicht abgezogen. Die Mannschaft mit der höheren Punktzahl gewinnt.

Ralf Kaiser, der bei der Energieversorgung Rottweil (ENRW) in der Netzleitstelle arbeitet, hat mit elf Jahren beim SV Flözlingen mit dem Gewichtheben begonnen: „Ab dem 15. Lebensjahr qualifizierte ich mich sogar drei Mal in Folge für die Deutsche Meisterschaft.“ Nach einer längeren familiären Pause ist der 37-Jährige seit 2019 wieder in der zweiten Mannschaft am Start. Bei einem Körpergewicht von 73 Kilogramm liegt seine aktuelle Bestleistung bei 77 Kilogramm im Reißen und 97 Kilogramm im Stoßen: „In Heim-Wettkämpfen schafft man automatisch ein paar Kilogramm mehr als im Training, denn in Flözlingen ist die Halle stets brechend voll und die Stimmung super.“

Wie beim Boxen begleitet laute Musik die Sportler beim Weg auf die Pritsche. Während der Versuche allerdings muss Totenstille herrschen. Die Athleten machen sich vorher viele Gedanken, welches Gewicht sie stemmen sollen: „Beim ersten Versuch geht man kein Risiko ein. Man wählt ein Gewicht, das man sich sicher zutraut. Danach ist es Kopfsache. Obwohl der Körper voller Adrenalin ist, muss man abschätzen, ob man Angst vor dem nächsten Gewicht hat oder nicht. Je nachdem geht es dann ab dem zweiten Versuch um die bisherige Bestleistung oder sogar um eine Steigerung.“

Ähnlich wie Hockeyspieler oder Basketballer müssen auch Gewichtheber weit durchs Land reisen, um sich im Wettkampf zu messen: „Es gibt in Baden-Württemberg nur wenige Vereine. Außer in Donaueschingen und Eisenbach im Schwarzwald-Baar-Kreis sind wir hier in der Gegend die Einzigen.“ Auch die Ausrüstung – spezielles Trikot sowie Schuhe mit starrer Sohle und erhöhter Ferse – gibt es nicht im Sportgeschäft um die Ecke, sondern ausschließlich online: „Es ist natürlich eine Randsportart, aber mich fasziniert sie.“

Ohne regelmäßiges Krafttraining und die richtige Technik ist Gewichtheben übrigens nicht zu empfehlen. Mindestens zwei Mal pro Woche steuert Ralf Kaiser nach der Arbeit bei der ENRW den Trainingsraum unter der Flözlinger Turn- und Festhalle an. Dort sieht es bei weitem nicht wie in einer typischen Mucki-Bude aus: „Wir haben keine 1.000 Geräte, sondern nicht viel mehr als eine alte Hantelbank zum Bankdrücken und ein paar Ständer für Kniebeugen. Und natürlich die Langhanteln mit den Gewichten.“ Fazit: zumindest beim Gewichtheben hat sich in den vergangenen hundert Jahren nicht allzu viel geändert. Wenn das kein Beweis für die Attraktivität dieser Sportart ist...

ENRW VON INNEN

Ralf Kaiser arbeitet in der Netzleitstelle der ENRW, der Schaltzentrale für eine funktionierende Energieversorgung. Er und seine Kollegen sind im Schichtdienst 24 Stunden, sieben Tage pro Woche für rund 40.000 Menschen im Einsatz und überwachen alle Versorgungsnetze der ENRW. Neben der reinen Überwachung steuern und regeln Kaiser und seine Kollegen die Strom- und Gasnetze, Wasserhochbehälter, Blockheizkraftwerke und die Wasserkraftanlage am Neckar.