22.10.2020

23:05

Oliver Oehrle hat Notdienst. Er liegt im vorgeschriebenen Notdienst-Zimmer im Bett, doch ein tiefer Schlaf stellt sich in diesen Nächten nie ein: „Man ist innerlich in Hab-Acht-Stellung.“ Prompt klingelt das Telefon auf dem Nachttisch, welches mit der Türklingel verbunden ist. Der 38-Jährige ist weder Arzt, noch Rettungssanitäter, sondern Apotheker. Er geht in den Verkaufsraum, die sogenannte „Offizin“ und drückt den Türöffner. Ein junges Pärchen betritt die Apotheke. Es geht um die Pille danach – neben Schmerzmitteln, Erkältungspräparaten und Magen-Darm-Mitteln mittlerweile einer der Klassiker des nächtlichen Apothekennotdienstes. Gesetzeskonform klärt Oliver Oehrle das Pärchen über die Risiken des Medikaments auf, bevor er es verkaufen darf. Zu nächtlicher Stunde kommen auch viele Menschen oft direkt von der Notfallpraxis im Krankenhaus. Ist das dort verschriebene Medikament einmal nicht vorrätig, hängt sich Oehrle ans Telefon und erkundigt sich bei anderen Notdienstapotheken. Herrscht überall Fehlanzeige, bleibt noch der Anruf in der Notfalllpraxis, um mit dem diensthabenden Arzt mögliche Alternativen zu besprechen.

Egal ob Wochentag, Wochenende oder Feiertag. Von 8.30 Uhr bis 8.30 Uhr am Folgetag dauert der 24-Stunden-Service, den jede Apotheke in Deutschland auf rollierender Basis anbieten muss. Laut Vorschrift muss ein studierter Apotheker den Notdienst übernehmen. Pharmazeutisch-technische Assistentinnen oder Assistenten sind nicht zugelassen. Abhängig von der Anzahl an Apotheken in einem von der Kammer festgelegten Bezirk sind es mehr oder weniger Dienste pro Jahr: „Eine Apotheke auf einer kleinen Nordseeinsel muss sicherlich deutlich mehr Notdienste anbieten, als eine Apotheke in einer Großstadt wie München oder Berlin mit einer sehr hohen Apothekendichte.“ Egal wo: sowohl im weltweiten als auch im europäischen Vergleich funktioniert der Apotheken-Notdienst in Deutschland laut dem 38-Jährigen hervorragend.

Oehrle, der in Spaichingen drei Apotheken betreibt, teilt sich die Notdienste mit 15 weiteren Apotheken im Bezirk Rottweil-Spaichingen:
„Wir sind mit einerunserer drei Apotheken also im Schnitt alle sechs Tage an der  sind die Dienste traditionell ruhiger, am zweiten Weihnachtsfeiertag oder am Pfingstmontag dagegen herrscht Hochbetrieb: „Offenbar ist der Leidensdruck an diesen zweiten Feiertagen höher.“ Auch die Erkältungswelle nach der Fasnet sorgt regelmäßig für zahlreiche Notdienst-Nutzer. Insgesamt reicht die Spanne an einem Sonn- oder Feiertag von lediglich 40 bis hin zu über 150 Kunden innerhalb der 24 Stunden.

Bedrohliche Situationen musste der Apotheker im Rahmen der nächtlichen Öffnungszeiten noch keine meistern. Lediglich an einen Besucher wird er sich wohl noch Jahre lang erinnern: „Der Mann steuerte – noch weit vor Corona – zielgerichtet hinter den Tresen an mir vorbei und machte sich an den Medikamenten in den Regalen zu schaffen.“ Oehrle rutschte das Herz in die Hose, bis klar wurde, dass es sich um einen Engländer handelte: „In Großbritannien herrscht in Apotheken in vielen Bereichen das Prinzip der Selbstbedienung – andere Länder, andere Sitten.“

Um den Apotheken-Notdienst vor Missbrauch zu schützen, wird bei jedem Besuch eine Notdienstgebühr in Höhe von 2,50 Euro fällig. Darüber hinaus erhalten die Apotheken in Deutschland eine Notdienstpauschale aus einem speziellen Fonds, in den pro verkauftem verschreibungspflichtigen Medikament derzeit 21 Cent fließen. Ohne diesen Zuschuss wäre dieser Service nicht kostendeckend. Ein Blick in den Kalender verrät Oliver Oehrle, dass er dieses Jahr auch am Heiligabend Notdienst haben wird. Vielleicht nimmt er dann die selten genutzte Möglichkeit in Anspruch, die Apothekenräume verlassen zu dürfen. Zwingende Voraussetzungen  der Apotheke zu sein. An diesem Abend aber sicherlich besser, als allein im Notdienst-Zimmer zu sitzen.