17.07.2023

"Andere kaufen sich Schmuck, ich bunte Abziehbilder auf der Haut!"

Turid Pfautsch aus Rottweil, 53 Jahre alt und Tattoo-begeistert

Turid Pfautsch hatte immer schon ihren eigenen Kopf. Vielleicht lag es am hierzulande äußerst seltenen altgermanischen Vornamen. Turid – die „schöne, friedliche Donnergöttin“ – rangiert in Deutschland auf Platz 9.666 der häufigsten Mädchennamen. Ein Mädchen mit dem Namen Turid ist also per se etwas ganz Besonderes. Allerdings ist der Name ihrer Mutter – „Tordis“, was „zum Donnergott Thor gehörig“ meint – auch nicht von schlechten Eltern. Die Mutter der Mutter, also Turids Oma, hatte einfach ein Faible für die nordisch-germanische Mythologie und Turid schon immer einen eigenen Kopf: „Ich habe in meiner Jugend als braves Mädchen das Haus verlassen und mich hinter der nächsten Straßenecke sofort umgezogen.“ Stiefel mit Sicherheitsnadeln und gestreifte Hosen. Ganz im Stil der englischen Punk-Bewegung und kein Problem im Westberlin der 1980er Jahre: „In der Schule liefen viele so rum, nur meinen Eltern hätte es definitiv nicht gefallen.“ Auch Tattoos waren damals im Sehnsuchtsort „England“ bereits weit verbreitet: „Auch unter Akademikern.“ Nachdem zuhause selbst Ohrlöcher verboten waren, durfte Turid an ein Tattoo allerdings nicht einmal im Traum denken: „Ich habe es damals trotzdem versucht, aber meine Eltern wollten davon nichts hören. Du würdest es bereuen, hat es geheißen.“

2006 siedelte die gelernte Krankenschwester mit ihrem Mann und zwei Kindern von Berlin ins schwäbische Rottweil um. Und ausgerechnet in der süddeutschen Provinz brach der Wunsch nach einem Tattoo wieder auf: „Mein Mann hatte nichts dagegen, forderte aber ein Mitbestimmungsrecht bei der Motivwahl. So wurde es ein Skorpion und ein Sonnenrad. Der Skorpion ist das Sternzeichen meines Mannes und meines im Aszendenten.“ Turids Internetrecherche führte zu einem 2007 in Schwenningen ansässigen polnischen Tätowierer: „Ich bat meinen Mann mitzukommen und Händchen zu halten, da ich nicht wusste, was auf mich zukommt. Aber es tat kaum weh.“

Der Tätowierer realisierte nicht nur das Spinnentier auf dem linken Oberarm, sondern auch das Sonnenrad im Nacken, welches aus Rosenzweigen bestand und sich bewusst vom Sonnenrad in der nationalsozialistischen Ideologie abhob. Und Turid wurde damals nicht gefeiert für diese Taten, im Gegenteil: „Ich bin als damals 38-jährige Frau mit Tattoos in weiten Teilen meiner Verwandtschaft angeeckt.“ Das sei etwas für Arbeiter und gehöre stilmäßig in die „untere Kohlenkiste“.

2009 traten bei Turid gesundheitliche Probleme immer mehr in den Vordergrund: körperliche Schwäche und depressive Verstimmungen machten ihr das Leben schwer. Eingehende Untersuchungen brachten zutage, dass sich ihre Schilddrüse aufgelöst hatte. Ab sofort musste sie Medikamente gegen die Unterfunktion einnehmen: „Ich wollte damals diesen Verlust eines Organs irgendwie ausgleichen und habe mich deshalb für zwei weitere Tattoos entschieden.“ Ein Tätowierer in Rottweil stach ihr 2010 einen Schmetterling und am rechten Arm einen Ring aus norwegischen Runen, welche die Namen ihres Mannes und ihrer Kinder bildeten. „Der Ring war der Dank an meine Kernfamilie, die mich immer getragen hatte, durch alle Höhen und Tiefen. Der Schmetterling symbolisiert die nicht mehr vorhandene Schilddrüse.“ Wieder war der Schmerz beim Stechen überhaupt kein Thema: „Konnte ich gut weg atmen.“

2011 komplementierte Turid ihre astrologische Persönlichkeit: „Irgendetwas fehlte da. Der Skorpion war ja nur ein Teil von mir.“ Deshalb fand das astrologische Symbol des Löwen seinen Weg auf Turids rechten Oberarm. Im gleichen Jahr musste bei ihr ein Nabelbruch operiert werden. Die Narbe störte die zweifache Mutter sehr. In einem Villinger Tattoo-Studio wurde sie durch eine Rose überdeckt. Die Tätowiererin war begeistert über Turids Haut: „Sie meinte, meine Haut sei unglaublich gut geeignet für Tattoos, die in ihrer Farbigkeit fast wie Abziehbilder wirken.“ Prompt gewann die Tätowiererin mit der Rose einen Preis bei einem Motiv-Wettbewerb.

2020 musste die damals 50-Jährige ihre Gebärmutter entfernen lassen: „Emotional kam ich damit gar nicht klar.“ Ihr Mann erinnerte sie daran, wie oft sie schon mental schwierige Situationen durch Tattoos verarbeitet hatte. Gesagt, getan. Es entstand am Steißbein eine Einblattblume als Symbol für die Gebärmutter und ein tränendes Herz für die Eierstöcke. „Ich wurde gewarnt vor den großen Schmerzen genau an dieser Stelle des Körpers, aber ich bin zum größten Erstaunen meiner Tätowiererin sogar eingeschlafen. Offenbar hat meine tiefe Überzeugung für den Sinn dieser Tattoos mein Schmerzempfinden deutlich gemindert.“

2023 bekam Turid die Diagnose „Brustkrebs“. Es musste operiert werden und wieder findet sich eine Narbe auf ihrem Körper. Für die nun 53-Jährige steht schon fest, dass ein weiteres Tattoo fällig ist. Noch ist das Motiv offen: „Vielleicht Rosenblätter, vielleicht meinen Vornamen in norwegischen Runen, mal schauen…, andere kaufen sich Schmuck, ich bunte Abziehbilder auf der Haut, die ewig bleiben und mir gut tun!“

Mittlerweile wird Turid oft auch von fremden Menschen bewundernd auf ihre Tattoos angesprochen: „Aber das ist mir nicht wichtig, ich will nicht damit angeben, aber sie auch nicht verstecken. Sie gehören zu mir, geben mir Kraft und haben alle eine tiefere Bedeutung für mich“. Es gibt für Turid wenig Stellen am Körper, die nicht für ein Tattoo geeignet wären. Auch die Anzahl ist nach oben offen. Nur was die Motive anbelangt, kann sie beispielsweise mit der Totenkopf-Kultur so gar nicht mitgehen: „Ich habe lange Sterbende begleitet, deshalb kommt es für mich nicht in Frage.“

Nicht nur ihrer Wahrnehmung nach sind Tattoos in der Gesellschaft längst aus der „unteren Kohlenkiste“ befreit: „Selbst Adlige lassen sich tätowieren.“ Im Gegensatz zu Alkohol oder Drogen sind Turid keine schädlichen Wirkungen bekannt, die von Tattoos ausgehen: „Was ich so mitbekomme, gibt es mittlerweile auch so gut wie keine Entzündungen mehr während des Heilungsprozesses, da heute mit Pflastern aus der Verbrennungsmedizin gearbeitet wird, welche die Wunde vor allen schädlichen Einflüssen schützt.“

Turid und Tattoos: das war zu Beginn die Faszination des (Körper-)Kults im Zusammenhang mit dem English Punk und ist nun Bewunderung für die (Körper-)Kunst: „Für mich sind die Tätowiererinnen und Tätowierer definitiv Künstlerinnen und Künstler!“