12.04.2022

Energiezufuhr

durch Kräuter

Ein Bilderrahmen mit mehr als ein Dutzend Zungenfotos hängt an der Wand. „Sie stammen von meinen Patientinnen und Patienten“, erklärt Ute Henrich, Naturheilpraktikerin aus Rottweil. „Das erste, was ich untersuche, sind Zunge und Pulsschlag.“ Daran könne sie sehr viel über das Beschwerdebild ablesen: ist die Zunge blass, weist sie Zahneindrücke auf, ist Belag darauf oder zeigt sie sonstige Auffälligkeiten?

Nach der ersten Begutachtung folgt ein intensives Gespräch. „Ich stelle sehr konkrete Fragen und gehe bis ins kleinste Detail“, erklärt die Heilpraktikerin. Bei Schmerzen fragt sie nach, wo genau er zu spüren ist und ob er dumpf, krampfartig oder ziehend ist. Dabei ist der gelernten Krankenschwester wichtig, den Menschen als Gesamtes zu betrachten – angefangen von der Kindheit, über Ernährungsweise, Bewegung, Verdauung, Krankheiten und sich wiederholende Beschwerden. Aber auch die Patientinnen und Patienten stellen ihrer Heilpraktikerin Fragen, die sie sonst nicht stellen würden. Dabei loben sie vor allem die große Aufmerksamkeit, welche Henrich ihnen schenkt und, dass sie sich so viel Zeit nimmt: „Du erklärst die Sachen so, dass ich sie verstehe.“

Seit 2003 arbeitet die 58-Jährige als Heilpraktikerin in Rottweil. Ihre Ausbildung absolvierte sie berufsbegleitend. Nach der Heilpraktiker-Ausbildung spezialisierte sie sich auf Pflanzenheilkunde und chinesische Medizin mit dem Schwerpunkt Akupunktur.

 

Lebensenergie durch Qi-Fluss

Die Chinesische Medizin sieht den Körper als Kraftwerk der vom Qi (gesprochen: tschi), was man mit Lebensenergie übersetzen kann, durchströmt wird. Ziel ist, die Gesundheit zu erhalten, um einen reibungslosen Qi-Fluss zu ermöglichen. Mangelt es an Qi, reduziert sich die Lebensenergie und führt zu Erschöpfung und Konzentrationsschwächen. Diese Ungleichgewichte (Dysbalancen) begünstigen die Entstehung von Krankheit. Die Theorie basiert auf dem Fünf-Elemente-System, dem die einzelnen Organe zugeordnet sind und von dem sie ihre Bezeichnung erhalten, zum Beispiel Magen-Qi, Lungen-Qi, Herz-Qi oder Nieren-Qi.

Um verloren gegangene Lebensenergie wiederzugewinnen, schwört die 58-Jährige auf Kräutertherapien. „In der chinesischen Medizin spielen diese eine große Rolle“, berichtet Henrich. „Die chinesischen Kräuter sind exotisch, schwer zu bekommen und kaum auszusprechen. Daher lege ich den Fokus lieber auf Kräuter und Gewürze, die bei uns wachsen.“ Gemeinsam mit ihrer Kollegin, Mitautorin und Freundin Birgit Bader hat Henrich ein umfassendes Werk publiziert, das die Wirkungsweise westlicher Kräuter innerhalb der chinesischen Medizin detailliert beschreibt. Abhängig von den Beschwerden und der Konstitution des Patienten kommen tonisierende, stärkende Kräuter zum Einsatz. Ist beispielsweise das Lungen-Qi aus dem Gleichgewicht, kann Thymian eingesetzt werden, der wärmend wirkt.

Henrich erzählt von einer jungen Frau, die über Schmerzen im unteren Rücken klagte. Wenige Wochen zuvor hatte sie einen kleinen Auffahrunfall ohne körperliche Verletzungen, „doch der Schreck sitze ihr noch in den Knochen“, berichtete sie. Wie sich bei der Untersuchung zeigte, war der Rücken nicht die Hauptursache. Henrich fielen die eiskalten Füße auf, die kalten Knie und ein kalter unterer Rücken. Die Symptome deuteten auf eine Unterbrechung im Qi-Fluss der Nieren-Energie hin. Die kalte, kohlenhydratarme Ernährung der Frau verstärkte den entstandenen Qi-Mangel zusätzlich. „Durch Akupunktur und viel Wärme konnte ich die Schmerzen lindern. Langfristig habe ich der jungen Frau zu mehr gekochten Mahlzeiten mit wärmenden Kräutern und Gewürzen sowie einer Teekur geraten“, berichtet Henrich.

Je nach Beschwerden stellt sie individuelle Teerezepturen zusammen. Selbst mischen darf sie diese jedoch nicht: „Dafür gibt es spezialisierte Apotheken.“ In der Regel nehmen die Patienten den Kräutertee dreimal täglich für vier bis sechs Wochen zu sich. Ein Hochgenuss ist das Getränk durch die enthaltenen Bitterstoffe meist nicht: „Ich sage meinen Patienten immer: „,Sie werden dreimal täglich an mich denken.‘“, erzählt Henrich lachend. Bei konsequenter Einnahme ist schon nach kurzer Zeit eine Besserung spürbar.

 

Individuelle Kräuterrezepturen als Heilmittel

Die Heilpraktikerin nutzt jedoch auch weitere Methoden der chinesischen Medizin. Der bekannteste Einsatz der Akupunktur ist die Schmerztherapie. Mit dem uralten Wissen der chinesischen Medizin lässt sich jedoch eine Vielzahl von Erkrankungen behandeln. Als weitere Therapieform wählt die Heilpraktikerin die Moxibustion, deren Namen vom Moxakraut abgeleitet wurde. Das Kraut zeichnet sich durch seine enorme Hitzeentwicklung aus. Erhältlich ist es auch in Zigarrenform. Die glühende Stange hält Henrich in gebührendem Abstand auf die Akupunkturpunkte.

Bei Rückenschmerzen visiert sie beispielsweise Punkte parallel zur Lendenwirbelsäule an, die dem Lebenstor „Mingmen“ entsprechen. „Mit Wärme aus der Heizung ist die Behandlung nicht vergleichbar. Diese Wärme geht viel, viel tiefer“, erklärt die 58-Jährige. Auch das Schröpfen, bei dem Gläser auf Körperstellen gesetzt werden, kommt zum Einsatz. Der Sog wird durch ein Vakuum erzeugt und lockert verspannte Muskelareale. Die Reflexzonen am Ohr oder an der Fußsohle spiegeln den Menschen im Mikrosystem wider. Durch Stimulation der Reflexzonen wird Einfluss auf das Makrosystem im Menschen ausgeübt.

 

Wohlbefinden der Patienten als oberstes Ziel

Schöne Erlebnisse gibt es für Ute Henrich in ihrer langjährigen Praxistätigkeit viele: „Wenn mir aber eine junge Frau mit jahrelangem Kinderwunsch erzählt, dass sie endlich schwanger ist, bekomm‘ ich Gänsehaut.“ Sahen sich Heilpraktiker früher mit vielen Vorbehalten konfrontiert, so werden Therapieformen der Naturheilkunde immer willkommener. Henrich wünscht sich, dass Schulmedizin und Naturheilkunde noch mehr „Hand in Hand“ gehen und sich gegenseitig ergänzen. Auch wenn es hier und da Unterschiede zwischen den Disziplinen gebe, so strebten beide eines an: Gesundheit und Wohlbefinden ihrer Patienten.

Ute Henrich arbeitet als Heilpraktikerin in Rottweil.