07.07.2022

Wir sind dann mal weg…

Dies ist die Geschichte von Frank und Martina von der Schwäbischen Alb, die pünktlich mit Beginn ihres Ruhestands Deutschland den Rücken kehrten und nach Ungarn auswanderten. Mit im Gepäck die damals 88-jährige Mutter von Martina und Hoffnung. Hoffnung auf ein freieres Leben als in der streng reglementierten und bürokratischen Bundesrepublik. Hier in Ungarn lebe es sich wie in Deutschland um 1970 mit der Technik von heute: „Alles super!“ Die Nachbarn winken und grüßen. Viele sprechen ein paar Brocken Deutsch, auch die Ärzte, sogar der Tierarzt. Die Regale in den Supermärkten sind gut gefüllt. Fast alles ist günstiger als in der Heimat. Das teuerste Gericht im Stammlokal der beiden kostet gerade mal zehn Euro. „Da liegt dann Pute, Filet oder Huhn auf dem Teller.“ Frank und Martina essen jeden Abend dort. Darüber freut sich die 65-Jährige: „Kochen war noch nie meine Leidenschaft.“ Ab 65 kosten übrigens in Ungarn die öffentlichen Verkehrsmittel nichts mehr. Mit ihrer ungarischen Freundin fährt Martina deshalb regelmäßig in die malerische Kleinstadt Péce, um zu bummeln.

2020 lebten offiziell 18.344 Deutsche in Ungarn. Die Dunkelziffer liegt weit höher. So sollen sich darüber hinaus mehr als 40.000 Deutsche inoffiziell angesiedelt haben. Viele deutsche Rentner ziehen in osteuropäische Länder, um der Altersarmut in Deutschland zu entfliehen. Bei Frank und Martina liegt der Fall anders: „Es ging bei unserer Entscheidung weniger ums Finanzielle, sondern mehr ums Lebensgefühl.“ Und in dieser Beziehung hatte die Aufbruchsstimmung der 1970er Jahre tiefe Eindrücke bei dem bodenständigen Industriekaufmann und der gelernten Bürogehilfin hinterlassen. Die Emanzipation der Gesellschaft und der Widerwillen, sich staatlichen Autoritäten zu unterwerfen, war damals auch in ihrem Dorf auf der Schwäbischen Alb greifbar.

Doch zunächst ging alles den „normalen“ Gang. Das Paar heiratete 1976 und baute 1978 ein Haus im Ort. 1986 kam ihr Sohn auf die Welt. Um die Jahrtausendwende wurde ein größeres Haus in schönerer Lage gebaut. 2012 erkundigten sich Frank und Martina nach den Kosten einer modernen Flüssiggasheizung. Frank erinnert sich noch genau an die Antwort des Heizungsbauers: „Er sagte uns, dass es aufgrund gesetzlicher Vorgaben in Baden-Württemberg verboten sei, ausschließlich eine reine Gasheizung einzubauen. Dies sei nur in Kombination mit erneuerbaren Energieträgern möglich.“ Rund 30.000 Euro hätten damals allein die Solarmodule gekostet. Frank war schockiert. „Was ist mit diesem Land los?“, fragte er sich. Da das Haus eh zu groß wurde, verkauften sie es und zogen in eine Mietwohnung.

Doch in Frank rumorte es weiter: „Die politische und soziale Entwicklung bei uns gefiel mir immer weniger. Das Deutschland unserer Jugend um 1970 war zerbrochen.“ Er machte sich intensiv Gedanken um seinen Ruhestand. Per Zufall kam er mit einem Jahrgänger in Kontakt, der gerade dabei war, nach Ungarn auszuwandern: „Er schwärmte mir vor, und ich kam ins Grübeln.“ Ohne seiner Frau etwas zu sagen, trat Frank bald verschiedenen Ungarn-Gruppen auf Facebook bei. Es dauerte nicht lange und er stieß bei den Immobilienangeboten auf ein kleines Haus mit knapp 3.000 Quadratmeter Grundstück in der Nähe des Kurstädtchens Dombóvár im Süden Ungarns. Frank war begeistert. Seine Frau gar nicht: „Ich wollte meine Mutter nicht allein zurücklassen.“ Nach einer schlaflosen Nacht präsentierte Frank die Lösung: die Schwiegermutter könnte mitziehen. Beide Frauen ließen sich letztlich von der Aussicht überzeugen, endlich Hunde und Katzen zu halten. „Mit Kind, Haushalt und Beruf ist das die ganzen Jahre nicht möglich gewesen“, sagt Martina.

Im Dezember 2018 schloss das Ehepaar mit dem deutschen Eigentümer von Haus und Grundstück einen Vorvertrag. Drei Monate später fuhren sie zum ersten Mal in ihrem Leben nach Ungarn, um – wie dort üblich – bei einem Rechtsanwalt den Kauf abzuwickeln. Eine Dolmetscherin war anwesend. Die Verträge gab es auf Deutsch und Ungarisch. Bezahlt wurde in bar. Das Haus präsentierte sich in keinem guten Zustand, aber immerhin die Bausubstanz war ordentlich. Im Internet gebuchte Handwerker aus Deutschland sollten es bewohnbar machen. Kein Glücksgriff. „Lehrgeld bezahlt“, sagt Frank heute. Erst mit ungarischen Handwerkern ging es langsam voran. Im Mai 2020, kurz nach dem ersten Corona-Lockdown, startete die Auswanderung mit Sondergenehmigung. Erwirkt durch einen ungarischen Rechtsanwalt. Eigentlich wären die Grenzen zu Ungarn wegen der Pandemie geschlossen gewesen.

Anfang Juli 2020 war es den frisch gebackenen Rentnern endlich möglich, ihr neues Heim zu beziehen, obwohl es noch immer eine Baustelle war. Strom und Wasser hatten sie zwischenzeitlich ebenso organisiert wie Telefon, Internet und ein ungarisches Kennzeichen: „Nicht einfach, wenn man kein Ungarisch spricht, aber die Leute helfen. Es geht alles, wenn man will“, sagt Martina. Die Menschen in Ungarn seien sehr hilfsbereit: „Und wir passen uns an. Wir sind immer noch Gäste in einem fremden Land.“

Einwandern kann in Ungarn jeder, der über nachweislich genug Geld und Besitz zum Leben verfügt: „Vom ungarischen Staat gibt es nichts. Man muss für alles selbst aufkommen.“ So beispielsweise für die Übernahme von der deutschen Krankenversicherung in die ungarische, die dann mit der deutschen Versicherung abrechnet. Allerdings bezahlt die deutsche Versicherung nur das, was auch die ungarische Kasse leistet, also etwa keinen Zahnersatz. Der muss selbst bezahlt werden, ebenso wie Fachärzte und Medikamente. Aber auch die sind jeweils günstiger als in Deutschland. Frank fasst zusammen: „Man darf hier kein Rundum-Sorglos-Paket erwarten. Alles muss man selbst in die Hand nehmen und erledigen.“

Seit über zwei Jahren leben Frank und Martina nun in der Nähe von Dombóvár, zwei Autostunden südwestlich von Budapest entfernt auf dem Land. Sie bereuen trotz aller Widrigkeiten keinen Tag und keine Stunde. „Es ist ein viel freieres und angenehmeres Leben als in Deutschland“, sagt Frank, „die Leute sind alle entspannt. Wenn es mal irgendetwas nicht zu kaufen gibt, meckert keiner. Auch nicht bei einer Schlange an der Kasse.“ Ihr Dorf hat nur zwei Straßen und knapp 60 Häuser. Martina liebt die unendlichen Felder mit Sonnenblumen, Mais, Wintergerste oder Raps. Weite statt Enge und Ruhe statt Hektik. Ihr riesiges Grundstück bietet genug Auslauf für die zwei Schäferhunde Aileen und L´Amour, die sie sich schnell zugelegt hatten. Trotzdem gehen sie täglich spazieren. Immer nachmittags, nach dem Mittagsvesper. Die große Runde dauert zwei Stunden, die kleine eine. Zum Hausstand zählt auch wie vereinbart eine Katze. Martina liebäugelt noch mit Maultieren, aber da bräuchte es einen Stall sowie Heu und Stroh. Möglich wäre es, wie fast alles in Ungarn. Für Frank und Martina ein bisschen das Land der unbegrenzten Möglichkeiten: „Wir sind glücklich an jedem Tag, wo wir aus dem Bett krabbeln. In Deutschland inzwischen und bei der heutigen Politik unmöglich!“

Auch wenn die beiden nur ein paar Brocken ungarisch sprechen, fühlen sie sich nicht einsam in dem fremden Land. Frank gründete bereits im Oktober 2019 eine öffentliche Facebook-Gruppe für Deutsche, die nach Ungarn auswandern wollen, oder ausgewandert sind und sich mit Gleichgesinnten austauschen möchten. Mittlerweile umfasst die Gruppe über 2.000 Mitglieder. Auf einer Google Maps Karte kann man sehen, in welchen Regionen sich andere Auswanderer niedergelassen haben. Wer möchte, kann sich eintragen lassen. Auch zahlreiche Adressen von Handwerkern, Einkaufsmöglichkeiten, Ärzten, Dienstleistern der Bereiche „Strom“, „Wasser“ oder „Telefon“ sind aufgelistet. In der Gruppe wird auch eifrig diskutiert. Mitglieder äußern sich oft zu politischen Themen. Dabei lässt sich nicht selten die emotionale Distanz zu Deutschland spüren. Selbst beim Fußball-Länderspiel Ungarn gegen Deutschland liegen die Sympathien eindeutig beim ehemaligen Ostblock-Staat.

Neben der Facebook-Gruppe bestehen nach wie vor Kontakte in die alte Heimat zu ehemaligen Arbeitskollegen und Freunden. Der Austausch läuft komplett über Telefon und die sozialen Netzwerke. Einziger Wermutstropfen: Martinas und Franks Sohn kann bis heute die Auswanderung seiner Eltern nicht nachvollziehen: „Er war noch nie hier. Für ihn ist Ungarn ein Entwicklungsland.“ Martina hofft sehr, dass ihr Sohn sich irgendwann doch noch ins Auto setzt und kommt. Die Schwäbische Alb vermissen die beiden gar nicht. Selbst wenn es in Ungarn weder Hefezopf mit Rosinen, Wurstsalat oder deftige Schlachtplatte gibt: "Wir haben es schöner!"