01.10.2019

Die Lebensmittel-Retter von Rottweil

Seit Mai 2018 existiert hier eine Bezirksgruppe von Foodsharing.de

Frei nach dem Motto „Zeig mir Deine Garage, und ich sage Dir, wer Du bist!“ ermöglicht Sandra Vollmers Garage in Neukirch relativ schnell einen aufschlussreichen Einblick in die Lebensweise der 42-Jährigen. Zumindest ausschnittsweise. Dabei geht es nicht – wie Sie jetzt vielleicht vorschnell vermuten – um eine bestimmte Automarke. Vielmehr sind es zahlreiche Gegenstände, welche auf eine ganz besondere Passion hinweisen: Kühlbehälter, Kühlakkus, gespülte Saucen-Eimer mit Deckel, Körbe, Einkaufstaschen sowie Kisten aus Holz, Pappe und Plastik. Um das Rätsel aufzulösen: Sandra Vollmer rettet Lebensmittel vor der Vernichtung. Und zwar mehrmals wöchentlich und in leitender Funktion. Als eine von drei sogenannten „Botschaftern“ der Initiative foodsharing.de koordiniert sie ehrenamtlich die Rettung von Lebensmitteln in Rottweil und Umgebung: „Foodsharing bedeutet nicht, dass ich nachts die Müllcontainer von Supermärkten knacke. Es geht vielmehr darum, örtliche Bäckereien, Restaurants und Direktvermarkter zu überzeugen, nicht verkaufte Lebensmittel, die aber noch genießbar sind, uns zu spenden, statt der Entsorgung zuzuführen.“

Die Mutter einer Tochter hat sich bewusst für diese Form des Engagements entschieden: „Es ist einfach Wahnsinn, wie viele Lebensmittel wegen ein paar brauner Flecken, kleiner Dellen oder Ablauf der Mindesthaltbarkeit im Müll landen. Vergangene Ostern standen uns an einem Verteiltermin nicht weniger als neun PKW voller Lebensmittel zur Verfügung, welche normalerweise im Müll gelandet wären. Dagegen etwas zu tun und Menschen für das Thema zu sensibilisieren, sehe ich als meinen Beitrag für die Gesellschaft.“

Natürlich hat Sandra Vollmer auch einen Brotberuf: Sie arbeitet als Betreuungsfachkraft und sozialpädagogische Familienhelferin, nichtsdestotrotz fließen sehr viele Stunden in das Projekt „foodsharing“, welches sie in Ludwigsburg und Stuttgart kennen lernte. „Über meinen Bruder kam ich in Kontakt mit der Initiative und irgendwann meinte er, ich soll es doch mal in Rottweil versuchen.“ Gesagt getan. Im Mai 2018 gründet die 42-Jährige mit einem Freund auf foodsharing.de den Bezirk Rottweil, der heute über 90 registrierte Foodsharer verfügt. Doch der Weg war steinig: „Die ersten vier Monate war schon eine Durststrecke. Ich habe zig Betriebe abgeklappert, doch überall hieß es entweder ‚Wir spenden schon an den Tafelladen‘, was ja übrigens absolut perfekt ist, oder ‚Wir überlegen es uns‘.“ Im September 2018 jedoch platzt der Knoten: eine Bäckerei, einige Direktvermarkter vom Rottweiler Wochenmarkt und Food-Trucks des Barstreet-Festivals, welches in Rottweil Station macht, erklären sich bereit, nicht verkaufte und noch genießbare Lebensmittel an die Foodsaver abzugeben. Mittlerweile sind weitere Bäcker dazu gekommen, darüber hinaus zwei Catering-Unternehmen sowie das Restaurant „Tschortes Room“ in Neufra.

„Die größte Angst der Inhaber besteht immer darin, dass keiner mehr zum Einkaufen kommt, wenn bekannt wird, dass Lebensmittel kostenlos abgegeben werden“, sagt Sandra Vollmer. Ihre Aufgabe besteht dann darin, mit guten Argumenten Überzeugungsarbeit zu leisten: „Ich denke, dass es niemandem leicht fällt, noch genießbare Lebensmittel zu entsorgen. Wir bieten hier eine sinnvolle Lösung an. Es bekommt in der Regel keiner mit, wenn wir die Sachen beispielsweise einmal pro Woche abends am Hintereingang abholen. Und zu guter Letzt reduziert sich der finanzielle Aufwand für die Entsorgung.“ Ein Bäcker habe sich sogar nach Gesprächen mit den Foodsavern dazu entschlossen, insgesamt etwas weniger zu produzieren. Entscheidet sich ein Betrieb für eine Zusammenarbeit mit foodsharing.de wird genau festgelegt, was wann und wo abgeholt werden darf. Sandra Vollmer benennt unter den Foodsavern ein bis zwei Betriebsverantwortliche, welche künftig die dortigen Abholungen betreuen und die anschließende Verteilung online unter den Foodsharern ausschreiben: „Wer möchte, kann sich dann über die Online-Plattform verbindlich anmelden und mit seinem Foodsharing-Ausweis zur Verteilung erscheinen.“

Vor der Verteilung der Nahrungsmittel werden diese kurz geprüft: „Durch meinen Hauptberuf kenne ich mich mit Lebensmittelhygiene aus. Wir riechen, wir schmecken und verlassen uns auf den gesunden Menschenverstand. Weggeworfen wird so gut wie nix. Gesundheitliche Probleme gab es noch nie.“ Eine Freundin habe neulich Fruchtjoghurt ein halbes Jahr (!) nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums konsumiert: „Sie lebt immer noch.“ Nach der Verteilung finden die geretteten Lebensmittel dankbare Abnehmer, da jeder Foodsharer seinerseits über ein Netzwerk außerhalb von foodsharing.de verfügt, darunter bewusst auch Menschen mit schmalem Geldbeutel. Generell gilt: Jeder gibt nur Lebensmittel weiter, die er/sie auch selbst noch essen würde. Dankbarkeit möchte die Initiative regelmäßig gegenüber den Betrieben zum Ausdruck bringen: „Wir haben uns beispielsweise schon zu einer Einmachparty getroffen, aus geretteten Lebensmitteln Saft sowie Marmelade produziert und beides den Betrieben als kleines Dankeschön überreicht.“ Sandra Vollmer freut sich über weitere Foodsaver oder Foodsharer, auch wenn eines fest steht: ihre Garage daheim in Neukirch wird definitiv nicht leerer…

INFO WAS IST FOODSHARING?

Foodsharing [deutsche Übersetzung: „Lebensmittel teilen“] ist eine 2012 entstandene Initiative gegen Lebensmittelverschwendung, die überproduzierte und nicht gewollte Lebensmittel vor der Tonne „rettet“, und sie unentgeltlich an registrierte Nutzer verteilt. Ziel ist es, die Wertschätzung für Lebensmittel zu steigern, Menschen für das Thema zu sensibilisieren und sich aktiv gegen die Ressourcenverschwendung einzusetzen. Im Gegensatz zum sogenannten „Containern“ setzt Foodsharing darauf, die aussortierten Lebensmittel bereits vor deren Entsorgung zu retten. In Kooperationsgesprächen wird dies mit den jeweiligen Betrieben festgelegt und vereinbart.

Das Problem ist groß: Weltweit landen jedes Jahr rund 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel auf dem Müll. Das entspricht dem Ertrag einer bewirtschafteten Fläche der 1,5-fachen Größe des europäischen Kontinents. In Deutschland sind es allein rund 18 Millionen Tonnen im Jahr. Rund 200.000 registrierte Foodsharer, die gerettete Lebensmittel verwerten,

sowie knapp 70.000 ehrenamtliche Foodsaver, welche Lebensmittel in Betrieben abholen, haben bislang in Deutschland, Österreich und der Schweiz mehr als 14 Millionen Kilogramm Lebensmittel vor der Vernichtung bewahrt.

Foodsharing wird getragen durch zahlreiche Ehrenamtliche, welche sich in überregionalen Arbeitsgruppen engagieren und Themen wie „Betriebsketten“, „Informationstechnologie“, „Öffentlichkeitsarbeit“, „Kinder und Jugend“ und andere bearbeiten. Herzstücke von foodsharing sind die zentrale Online-Plattform foodsharing.de sowie die „Botschafter“, welche in jedem Bezirk die Freiwilligen koordinieren und darüber hinaus auch Öffentlichkeitsarbeit, Aktionen und Treffen organisieren.

Wer sich als Foodsharer engagieren möchte, muss zunächst online einen kleinen schriftlichen Test („Quiz“) bestehen, der belegt, dass mit den geretteten Lebensmitteln verantwortungsvoll umgegangen wird. Die Initiative steht allen Menschen offen: Lebensverhältnisse spielen bei

der Registrierung keine Rolle. Die Mitgliedschaft ist kostenlos.

Da sämtliche Lebensmittelketten ausschließlich von überregional tätigen Foodsavern angesprochen werden, geht es vor Ort in erster Linie um lokale Betriebe wie Bäckereien, Restaurants und Direktvermarkter. Für jeden Betrieb benennen die zuständigen Botschafter ein bis zwei Freiwillige als Betriebsverantwortliche, welche die regelmäßigen Abholungen organisieren und die anschließende Verteilung für die registrierten Foodsharer online ausschreiben. Bei Interesse können sich Foodsharer anmelden und müssen dann mit ihren Foodsharing-Ausweisen am vereinbarten Treffpunkt erscheinen, um die Lebensmittel entgegen zu nehmen.

Foodsharing nimmt auch Lebensmittel nach Ablauf der Mindesthaltbarkeit an, da in aller Regel der Verzehr noch länger bedenkenlos möglich ist. Alle Foodsharer haften diesbezüglich per unterzeichneter Erklärung für sich selbst und verpflichten sich gleichzeitig zur unentgeltlichen Weitergabe der geretteten Lebensmittel.

KONTAKT

Foodsharing.de
Bezirk Rottweil
Sandra Vollmer (Botschafterin)
Mail: rottweil(at)foodsharing.network

Foodsharing.de
Bezirk Tuttlingen
Susanna Güttler
Mail: s.guettler(at)landkreis-tuttlingen.de

www.foodsharing.de

GLOSSAR

Foodsharer = Menschen, die sich auf foodsharing.de als Abnehmer von geretteten Lebensmitteln registrieren lassen
Foodsaver = Foodsharer, die ehrenamtlich gerettete Lebensmittel von Betrieben abholen und zu Verteilstellen bringen
Betriebsverantwortlicher = Foodsaver, die einen Lebensmittelbetrieb betreuen
Botschafter = Foodsaver, welche die Aktivitäten von foodsharing.de in einem Bezirk koordinieren und leiten