26.10.2023

HIMMELWÄRTS MIT BODENHAFTUNG

Unterwegs mit dem Flughafenseelsorger in Stuttgart

lakativ ausgedrückt, sind wir immer dann gefragt, wenn jemand weint“, erklärt Flughafenseelsorger Matthias Hiller mit einem Augenzwinkern. Anders gesagt: immer dann, wenn kein bezahlter Dienstleister mehr zuständig ist, suchen Hiller und Team nach Lösungen. Über allem steht das Ziel, den Betrieb des Flughafens aufrechtzuerhalten und ihn so menschenfreundlich wie möglich zu gestalten. Deshalb finanziert sich die Flughafenseelsorge nicht nur über die Kirchen, auch die Flughafengesellschaft übernimmt einen Teil der Kosten.

„Obwohl es auf jedem europäischen Flughafen welche gibt, ist Flughafenseelsorger kein Ausbildungsberuf!“ Als Pfarrer genießt Matthias Hiller Schweigerecht und Schweigepflicht. Beides unverzichtbare Privilegien für seine Arbeit auf dem Flughafen. Die Flughafenseelsorge in Stuttgart gibt es seit 25 Jahren. Sie ist ökumenisch organisiert. Während Hiller als evangelischer Pfarrer seine Aufgabe seit 2019 in Vollzeit absolviert, arbeitet seine Kollegin Mechthild Foldenauer von der katholischen Kirche in Teilzeit. Über 30 Ehrenamtliche unterstützen die beiden.

Rund 10.000 Einsätze jährlich absolviert das Team seit der „Corona-Pause“. Wir beschränken uns im Folgenden auf ein paar wenige. Fünf ältere Damen auf dem Weg nach Rom. Den Petersplatz im Kopf zückt eine der fünf statt eines Ausweisdokumentes ihr Sparbuch. Ohne gültiges Ausweisdokument kein Flug. Die anderen Damen erklären sich sofort solidarisch. Groß ist die Aufregung. Hillers Kontakte zur Bundespolizei und sein tiefer Blick in die Handtasche der Dame retten die Situation. Ein Identitätsnachweis wird gefunden, ein Ersatz-Ausweisdokument ausgestellt: „Für all dies hätte der Dienstleister beim Check-In definitiv keine Zeit. Dafür sind wir da.“

Das Vorstandsmitglied eines Dax-notierten deutschen Konzerns gönnt sich eine Woche Urlaub in Übersee. Mitfliegen darf die Freundin, welche vor Aufregung die Handtasche in der S-Bahn liegen lässt. Sie untröstlich und tränenüberströmt, er gewillt, notfalls alleine zu fliegen. Hiller hilft. Die Handtasche wurde im Polizeirevier der Endhaltstelle abgegeben. Der Pfarrer schickt ein Taxi und erreicht gleichzeitig, dass das Gate zum Flug noch etwas länger geöffnet bleibt. Der Plan geht auf.

Natürlich gibt es auch deutlich ernstere Anlässe fürs Eingreifen. Asylbewerber, die am Flughafen eintreffen, benötigen oft Hilfe. Viele müssen nach Karlsruhe zur Erstaufnahmestelle des Landes reisen. Doch wie funktioniert das in einem fremden Land ohne Kenntnis der Sprache und ohne Geld? Hiller und Team unterstützen materiell und nutzen das Übersetzungstool von Google. Wenn das versagt wie etwa bei Menschen aus dem Kongo oder aus Uganda, gibt es andere Möglichkeiten der Verständigung: „Auf dem Flughafen Stuttgart arbeiten rund 10.000 Menschen in 300 Firmen und Behörden. Da gibt es immer jemanden, der sich verständigen kann.“

Hiller kennt sich aus mit kulturellen Unterschieden und sprachlichen Barrieren. Im Dienst der Kirche war er lange weltweit als Entwicklungshelfer tätig. Angst hatte er bislang als Flughafenseelsorger noch nie. Wer im Sudan Wasserlöcher gebohrt hat, um Menschen vor dem Verdursten zu retten, lässt sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen. Auch dann nicht, wenn ein Vater und Großvater aus der Türkei abends auf dem Weg zum Einchecken zusammenbricht und kurze Zeit später trotz Reanimationsversuchen verstirbt. Die Verzweiflung seiner Frau, die nach 62 Jahren Ehe nun mitten im Terminal Witwe wurde, lässt sie selbst fast zusammenbrechen.

Innerhalb von drei Stunden erscheinen aus der Familie 26 Erwachsene, elf Kinder teilweise im Schlafanzug sowie zwei Hunde. Alle wollen ihre Verbundenheit, ihre Liebe und ihren Schmerz über den Tod zeigen: „Es ist eine andere Kultur. Während wir die Beerdigung abwarten, geht es hier darum, schnellstmöglich mitzuklagen und Anteilnahme zu zeigen. Je intensiver die Trauerbekundung, desto größer gilt die Liebe zum Verstorbenen.“ Hiller organisiert einen bewachten Rückzugsraum für die Witwe, um den Ansturm der Trauergäste zu kontrollieren. Und später auch einen Bestatter, der mit islamischen Riten vertraut ist. Die Polizei ist ebenfalls vor Ort: „Das alles vermag kein Dienstleister hier auf dem Flughafen zu übernehmen. Notfallseelsorge gehört zu unseren Aufgaben.“   

Stirbt ein Passagier in einem Flugzeug, muss der nächste Flughafen angesteuert und die Leiche geborgen werden. Keine leichte Aufgabe, weder für die Einsatzkräfte noch für die mitreisenden Angehörigen. Flugreisende jedenfalls werden im Schnitt immer älter: „Früher haben die Kinder die Eltern besucht, heute ist es oft umgekehrt. Senioren entdecken ihre Mobilität. Manche verbringen sogar Teile ihres Ruhestandes in wärmeren Gefilden. Da bleibt nicht selten die medizinische Vorsorge auf der Strecke.“

„Das Wichtigste bei unserer Arbeit ist der starke Wille, als Christen Probleme zu lösen, die nicht unsere sind.“ Aber dies geschieht eben nur dann, wenn der Andere die Hilfe annehmen möchte: „Der Klient entscheidet, ob und wie ihm geholfen wird.“ Wenn der Spargelstecher aus Georgien den Bus verpasst hat, der ihn und seine Kollegen zum Einsatzort bringt, benötigt er vor allem eines: die Möglichkeit nach Georgien zu telefonieren. Und nichts anderes. Dem Moslem, der durch seinen Flug zwei Gebete verpasst hat, wird Zugang zum geweihten Gebetsraum gewährt. Dem einzigen Taxifahrer vor dem Flughafen mit E-Auto, den seine Kollegen trotz langer Ladezeiten immer ans Ende der Warteschleife beordern, wird geholfen, indem die Leute der Flughafenseelsorge die anderen Fahrer um einen fairen Umgang bitten. Der polnischen Pflegekraft, die ihre Reise kurz unterbrechen muss, um in der Stadt wichtige Medikamente zu erwerben, wird gezeigt, wo sie ihre Koffer und Taschen so lange lagern kann. Hiller fasst zusammen: „Wir sind die Kreativen der Kirche und lassen uns gerne herausfordern!“

Auf dem Weg durch den Flughafen treffen wir auf den emeritierten Biologie-Professor Heinz Breer, der seit drei Jahren jede Woche vier bis fünf Stunden am Info-Stand der Flughafenseelsorge seinen ehrenamtlichen Dienst verrichtet: „Ich helfe gerne und blicke durchweg in dankbare Gesichter.“ Der Weg zum Klo, kein Geld für den Bus oder ein Gepäckteil, das fehlt – überwiegend sind es „kleine“ und ganz konkrete Probleme, die es zu lösen gilt. Es geht dem Team keinesfalls darum, zu missionieren: „Wir möchten keine Kirchen-Community hier am Flughafen installieren.“ Nichtsdestotrotz verteilen die Flughafenseelsorger bei Bedarf kleine Engel. Diese sind eckenlos und aus Kunststoff. Sie passieren jede Sicherheitskontrolle, helfen beispielsweise gegen Flugangst und sind sowohl im Christentum wie auch im Islam verortet.

Mein Besuch bei der Flughafenseelsorge neigt sich dem Ende entgegen. Doch die Verabschiedung muss kurz warten. Vor uns stehen ein älterer Herr, eine ältere Dame und zwei Kinder. Ganz offensichtlich Großeltern mit Enkeln. Alle vier vollbepackt und sichtlich orientierungslos. „Flug nach Istanbul um 15:20 Uhr? Sie sind hier komplett falsch!“ Matthias Hiller weist den Weg ins Terminal 1, wo sich die Abflugebene befindet.

Biologie-Professor Heinz Breer (2. Bild), Flughafen Stuttgart, Gebetsraum, Pfarrer Matthias Hiller