16.04.2021

„Online-Sein bestimmt gerade unser Leben“

Wäre Corona vor Einführung des Internets ausgebrochen, hätte das Musiker-Paar Renate und Jochen Braun aus Rottweil ein fettes Problem an der Backe: „Ohne den Online-Unterricht wäre es mittelfristig eng geworden.“ Jochen und Renate Braun sind seit vielen Jahren Profis. Er an der Gitarre, sie im Bereich Gesang. Eine große Schülerschar sorgt neben Live-Auftritten und Workshops für die Einnahmen. Kein Wunder, dass es den beiden zu Beginn des ersten Lockdowns etwas mulmig wurde: „Die Angst, dass jetzt alles zusammenbricht, war im ersten Moment schon da. Doch nach dem ersten Schock haben wir uns voll reingehängt.“ Die Botschaft an ihre Schüler war eindeutig: „Wir sind online verfügbar!“

Ihr Unterricht wurde digital. Ob Skype, Zoom oder WhatsApp-Video – Lehrer und Schüler begegneten sich fortan online über Endgeräte – mit schwankender Qualität: „Je nach Verbindung kann es schon mal zu Verzögerungen oder Ausfällen kommen. Auch eignet sich ein Laptop besser als nur ein Handy. Aber die meisten unserer Schüler halten uns die Treue.“ Mehr noch: durch die Verlagerung des Unterrichts ins Netz haben sich einige Interessenten aus ganz Deutschland bei den Brauns angemeldet. Fünf Tage die Woche, in der Regel von 14 bis 20 Uhr, sind die Profi-Musiker somit an ihren Bildschirmen zu finden, um zu unterrichten.

Bis heute experimentieren die beiden mit verschiedenem Equipment, um die Ton- und Klangqualität im Rahmen des Unterrichts zu optimieren. Darüber hinaus bietet Jochen seinen Schülern einen besonderen Service: „Ich produziere nahezu täglich für meinen nicht-öffentlichen YouTube-Channel kurze unterrichtsbezogene Clips. Da sind meine Hände und weitere Details besser zu sehen als über Skype oder Zoom.“ Weit über 300 solcher Clips sind bis heute entstanden. Für den 61-Jährigen bedeutet die digitale Arbeit Fluch und Segen: „Die Distanz zur Arbeit fehlt, da man eigentlich rund um die Uhr irgendwie am Werkeln ist.“ Ob am Wochenende oder zu nachtschlafender Zeit – PC und Internet stehen immer bereit für Korrespondenz, Aufnahmen oder Unterrichtsplanung: „Das ganze Leben wird bestimmt vom Online-sein.“

Als dann im vergangenen Frühsommer wieder mehr Kontakte erlaubt waren, entwickelte der Gitarrist für sein Studio, das gleichzeitig als Unterrichtsraum dient, ein umfassendes Hygienekonzept mit Trennwänden, getrenntem Ein- und Ausgang sowie regelmäßiger Frischluftzufuhr. Auch Renate machte sich Gedanken und hatte Glück. Sie konnte eine ganz besondere Location nutzen: „Durch die Aerosole benötigt man in Corona- Zeiten ja sehr viel Platz beim Singen. Deshalb habe ich mich sehr gefreut, dass mir Bekannte ihr Ladengeschäft in der Unteren Hauptstraße zur Verfügung stellten.“ Der Laden stand leer und die 64-jährige Gesangspädagogin durfte ihn ab Juni 2020 so lange nutzen, bis sich reguläre Mieter fanden.

Die Brauns waren so begeistert von der Lokalität, dass sie beschlossen, diese ab August für kleine corona-gerechte Veranstaltungen zu nutzen: „Wir wollten damit die örtliche Kulturszene unterstützen, sie ein wenig am Leben halten und Künstlern in diesen schwierigen Zeiten eine Plattform bieten.“ Der „Kulturladen“ lief bis in den Dezember hinein wie geschmiert: „Die Leute haben sich nach Kultur gesehnt!“ Trotz Voranmeldung, Registrierung, Maskenpflicht und Abstandsgebot waren die 25 Plätze meistens ausgebucht. Das Eintrittsgeld erhielten komplett die auftretenden Künstler. Auch der im Laden stattgefundene Weihnachtsverkauf der Rottweiler Waldorfschule erfreute sich großer Beliebtheit. Der Erfolg sorgte jedoch letztlich auch für das Ende: „Da der Laden bespielt wurde und im öffentlichen Fokus stand, gab es plötzlich ernsthafte Mietinteressenten.“ Im Dezember mussten Renate und Jochen Braun aus diesem Grund kurzfristig schließen – mit einer guten Bilanz: „Es war für beide Seiten eine Win-Win-Situation.“ Ideen für Veranstaltungen gab es jedenfalls noch zuhauf. Beispielsweise die Präsentation der neuen CD ihres Duos „Acoustic Blue Mama“. Diese war 2019 in Austin/Texas entstanden und im Dezember 2020, kurz vor dem zweiten Lockdown veröffentlicht worden.

Angetan vom Erfolg des Konzepts spukt dem Musiker-Duo seitdem die Idee der „Kultur-Nomaden“ durch den Kopf: „Wir könnten uns gut vorstellen, regelmäßig Leerstände in der Innenstadt auf diese Art und Weise zu beleben.“ Ausstellungen, Kleinkunst, Konzerte – Formate gäbe es genug. Demnächst möchte das Paar sein Konzept dem Kulturamt und der städtischen Wirtschaftsförderung vorstellen. Sie sind sicher, dass das Konzept auch ohne Corona funktioniert. Diese Zeit wird kommen, davon sind Renate und Jochen Braun überzeugt: „Irgendwann beginnt auch wieder ein Leben jenseits von Zoom, Skype und WhatsApp!“