16.04.2021

„Meine Aufgabe ist es, Rottweil groß zu machen!“

Manchmal stelle ich mir vor, Rottweils Innenstadt ist ein Künstler, ein Musiker, den noch kein Mensch kennt. Meine Aufgabe ist es, ihn groß zu machen, sein Potential nach außen zu tragen.“ Tamara Retzlaff hat Musikmanagement in London, Berlin und Köln studiert. Doch statt Singer, Songwriter, Bands oder DJs betreut die junge Frau seit 2021 als „City-Managerin“ die Einzelhändler und Gastronomen in Rottweils Mitte. Warum? „Zufall“, antwortet die 26-Jährige mit einem Lächeln. Als Balingerin habe sie die Stellenausschreibung aus der Nachbarstadt zufällig entdeckt und sich sofort angesprochen gefühlt: „Rottweil verfügt über ein unvergleichliches Erscheinungsbild. Es ist einfach eine wunderschöne Stadt!“

Tamara erkannte schnell Gemeinsamkeiten zwischen Innenstadt- Handel und Musikbusiness: „Viele Entwicklungen, die wir heute im Handel erleben, haben im Musikbusiness schon vor Jahren stattgefunden. Was Amazon für die Händler bedeutet, bedeutete Spotify für die CD-Verkäufe. Dennoch gibt es weiterhin sehr erfolgreiche Künstler. Die Musikbranche hat es geschafft, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen und das schaffen die Innenstädte ebenfalls.“ Beide Branchen müssten sich mit kreativen Lösungen dem Strukturwandel und den Auswirkungen der Corona-Pandemie stellen. Und genau dabei möchte sie helfen. Mit ihrem Werdegang und ganz speziellen Kenntnissen vor allem im Bereich „Social Media“ bringt Tamara ziemlich perfekte Voraussetzungen mit.

Nach der Fachhochschulreife absolvierte sie in Berlin eine Ausbildung zur Kauffrau für Büromanagement. Zunächst beim Kongresszentrum, dann bei „Battle Royal“, einer Produktionsfirma für Live- und Messe-Shows. „100 Jahre BMW“ im Münchner Olympiastadion war nur eines von zahlreichen Mega-Events, das Tamara mit begleiten durfte. Zwischen Ausbildungsende und Studium jobbte die Balingerin dann 2017 als Barkeeperin auf Kreta: „Das ganze Land und die Insel natürlich auch war gezeichnet von der griechischen Staatsschuldenkrise. Leerstände und geschlossene Läden bestimmten das öffentliche Leben – ähnliche Zustände wie während des Lockdowns in Rottweil.“

Begleitend zum Studium gelang es Tamara, sich zu einer gefragten Influencerin auf dem Social-Media-Kanal „Instagram“ zu entwickeln. Über einschlägige Plattformen wurden große Firmen wie beispielsweise der Getränkehersteller Sinalco auf die junge Frau aufmerksam und beauftragten Kampagnen. Im Rückblick eine spannende, aber auch anstrengende Zeit: „Als Influencerin hat man 12-Stunden-Tage und mehr. Nachrichten von Followern beantworten, täglich bis zu 15 Stories posten und natürlich ein perfektes Foto oder Video nach dem anderen erstellen.“ Über vier Jahre ließ Tamara ihre Follower an jedem Moment ihres Lebens teilhaben, doch: „Irgendwann sind alle Geschichten erzählt.“ Parallel beriet sie Unternehmen im Bereich Social Media und unterstützte diese bei der Erstellung von Inhalten („Content“). Als dann viele ihrer Kunden wie Kosmetik-Studios oder Hotels aufgrund von Corona nicht mehr warben, war klar, dass umorientieren angesagt war – und die Bewerbung nach Rottweil ging auf die Reise.

Februar 2021: Während in Rottweil und anderswo die Läden geschlossen sind, schalten Internet-Verkäufer wie Zalando hunderte von Werbeanzeigen: „Ich will kein Missionar sein, aber in der jetzigen Situation ist Social Media einfach sehr wichtig! Der örtliche Händler wird vergessen, wenn er nicht zumindest online präsent ist.“ Also motiviert und berät die 26-Jährige die Rottweiler Einzelhändler, führt Online- Präsenz-Checks durch und verschickt Social-Media-Guides. „Live-Shopping“ ist ein Format, das sie in der ältesten Stadt Baden-Württembergs etablieren möchte: „Über eine spezielle Plattform stellen örtliche Händler bestimmte Produkte live vor, die man dann sofort online kaufen kann.“ Außerdem ist ein Instagram-Auftritt der Innenstadt am Entstehen. Ein Gründerwettbewerb soll dabei helfen, Leerstände zu verringern. Event- Konzepte für die erste Zeit nach dem Lockdown liegen bereits ausgearbeitet in der Schublade. Tamara ist hochmotiviert. Zusammen mit den ehrenamtlichen Helfern des Gewerbeund Handelsvereins (GHV) und der städtischen Wirtschaftsförderung stemmt sie sich gegen die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie.

Nicht zuletzt sind es aber nicht nur die großen Konzepte, welche von ihr erwartet werden. Vielen Händlern steht das Wasser bis zum Hals. Das Warten auf versprochene Corona- Hilfen, Versuche, Ware zurückzusenden und erstattet zu bekommen, Kredite aufnehmen, Existenzängste aushalten – das alles zehrt an den Nerven. Da erweist sich der seelische Zuspruch als fast ebenso wichtig: „Manche Einzelhändler kommen selbst bei mir vorbei, auf andere werde ich aufmerksam gemacht. Da bin ich dann als Streetworkerin gefragt: Motivieren, Mut zusprechen und Hoffnung machen.“ Vielleicht steht Rottweils Innenstadt ja unmittelbar vor dem großen Durchbruch. Spätestens, wenn die Hängebrücke eröffnet wird. Und um letztmals den Vergleich mit dem Musikbusiness zu bemühen: Auch Ed Sheeran oder die Kelly Family hatten einst als Straßenmusiker begonnen…